Cannes-Eröffnung mit Wolodymyr Selenskyj: Glamour und Krieg - DER SPIEGEL

2022-05-21 19:02:25 By : Ms. Helen Wang

Jurypräsident Vincent Lindon (M.) auf dem roten Teppich, umgeben von seinen Co-Juroren (v.l.) Asghar Farhadi, Rebecca Hall, Noomi Rapace und Joachim Trier

Nein, das Kino kann ganz sicherlich nicht die Welt retten. Virginie Efira, belgischer Kinostar und Moderatorin der Eröffnungsgala von Cannes, schraubt die Erwartungen an das Festival in den ersten Minuten auf der Bühne des Grand Théâtre Lumière sogleich herunter. Eine Industrie unter doppeltem Druck von Pandemiefolgen und Streamingkonkurrenz zu retten, wäre auch schon Leistung genug dieser 75. Filmfestspiele.

Aber die weltweit wichtigste Feier des Kinos, als die sich Cannes ohne weitere Rücksprache mit dem Rest der Welt versteht, ist sich bewusst: In diesem Jahr muss ihr eine Gratwanderung zwischen Selbstbehauptung und Demut unbedingt gelingen. Demut, weil man trotz des Kriegs in der Ukraine und der andauernden Pandemie stattfinden kann. Und Selbstbehauptung, weil das Publikum immer noch zögert, in die Kinosäle zurückzukehren, und Cannes es mit starken Filmen überzeugen will, wieder ein Ticket zu kaufen.

Gala-Moderatorin Efira ist 2022 selbst in zwei Filmen in Cannes zu sehen: In »Revoir Paris« von Alice Winocour und »Don Juan« von Serge Bozon

Dass es von starken Filmen wieder genug geben wird, ist keine Frage. David Cronenberg, Claire Denis und Kelly Reichardt sind nur einige der Schwergewichte im Wettbewerb: Die Palmengewinner Hirokazu Kore-eda, Ruben Östlund und Cristian Mungiu kehren auch mit neuen Filmen zurück. Dazu Sonder-Screenings von »Top Gun: Maverick« mit Tom Cruise und Baz Luhrmanns »Elvis«-Spektakel, Serienpremieren von Marco Bellocchio und Olivier Assayas sowie eine bestechende »Quinzaine des réalisateurs«-Reihe, in der das französische Kino mit Mia Hansen-Løve (»Bergman Island«) , Alice Winocour (»Proxima«)  und Léa Mysius immense weibliche Stärke zeigt.

Von dieser Stärke ist im Wettbewerb nicht viel zu merken. Dabei war es 2021 die Französin Julia Ducournau , die als erste Regisseurin allein den Hauptpreis gewann. Doch die Repräsentation von Frauen ist wohl eines der Probleme, die sich unter der Leitung von Programmchef Thierry Frémaux nicht mehr lösen werden. Wie der profilierte Branchendienst »Deadline« am Dienstag bekannt machte  , hatte Frémaux in der Autorisierung eines Interviews mit »Deadline« Fragen zur Präsenz von Regisseurinnen komplett gestrichen. Auch ein Statement zu Roman Polański, den Frémaux trotz diverser Missbrauchsvorwürfe wohl vorbehaltlos einladen würde, sei verwässert worden. Der Branchendienst entschloss sich daraufhin, das Interview nicht zu veröffentlichen.

Solche Fehltritte hätte man vom Festival nicht mehr erwartet – schließlich hatte man mehrere Jahre Zeit, seine Haltung zu #MeToo und Diversität zu klären und interne Reformen voranzubringen. Mit der deutschen Medienmanagerin Iris Knobloch ist kürzlich zum ersten Mal in der Geschichte von Cannes eine Frau zur Präsidentin des Festivals gewählt worden. 2023 wird sie die Nachfolge von Pierre Lescure antreten.

Außerdem hatte Cannes unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs schnell zu einer stimmigen Haltung im Streit um einen möglichen Kulturboykott gefunden: Man würde keine offiziellen Delegationen aus Russland einladen und niemanden mit Verbindungen zur Regierung dulden, die Arbeiten regierungskritischer russischer Filmemacher aber zeigen. Das Ergebnis überzeugt. Kirill Serebrennikow, vor einigen Wochen aus Russland nach Deutschland geflohen, wird seinen Film über die volatile Ehe von Peter Tschaikowsky im Wettbewerb zeigen.

Thematisch dominiert aber die Ukraine: Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa  ist mit seinem neuen Dokumentarfilm »The Natural History of Destruction« für eine Sonderaufführung eingeladen. Zudem wurde Platz gemacht für »Mariupolis 2«, den letzten Film von Mantas Kvedaravičius. Der litauische Regisseur, der bereits in der Ukraine gedreht hatte und für eine Dokumentation des aktuellen Kriegs zurückkehrte, wurde Anfang April von russischen Streitkräften getötet.

Per Video zugeschaltet sprach der ukrainische Präsident Selenskyj über die Gefahr, dass sich das Kino von Diktatoren vereinnahmen lässt

Trotz dieser im Vorfeld gesetzten politischen Akzente kam es dennoch überraschend, als bei der Eröffnung am Dienstagabend kurz vor Ende der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video zugeschaltet wurde. Auf so viel Politik war das Galapublikum nicht vorbereitet. Die Standing Ovations für den diesjährigen Jurypräsidenten Vincent Lindon, den zurzeit größten männlichen Star im französischen Kino, und Ehrenpreisträger Forest Whitaker fielen ihm jedenfalls deutlich leichter, als ebenso nachdrücklich auf die Rede von Selenskyj zu reagieren. Vielleicht auch deshalb, weil der gelernte Schauspieler trotz seiner Nähe zum Fach das Kino nicht bedingungslos lobte, sondern an seine Ambivalenz erinnerte: Dem Faschismus hatte sich das Kino ebenso angedient wie ihm widerstanden. Wo würde es sich in diesem Krieg positionieren?

Direkte Antworten sind in den elf Festivaltagen nicht zu erwarten, eher kleine, symbolische Gesten. Dazu gehört auch die Umbenennung des Eröffnungsfilms von Michel Hazanavicius. Ursprünglich »Z« benannt, wurde der Titel in »Coupez!« geändert, um jede Verwechslung mit dem russischen Pro-Kriegs-Symbol  zu vermeiden. Mit der Neuverfilmung des japanischen Überraschungserfolgs »One Cut of the Dead« schaltete das Festival nach Selenkskyjs Auftritt nahtlos wieder um auf Normalbetrieb. Hazanavicius hat sich eine seltsame Nische im französischen Kino geschaffen: Er macht fast nur Filme übers Filmemachen. »The Artist« über den Wechsel vom Stummfilm zum »talkie« war 2012 sein großer Oscarerfolg, mit seiner lahmen Godard-Farce »Le redoutable« war der cinephile Kredit 2017 aber schon wieder verspielt.

Szenenbild aus »Coupez!« mit Romain Duris, Bérénice Bejo und Simone Hazanavicius

Wer geringe Erwartungen an »Coupez!« hatte, der konnte am Dienstagabend nun positiv überrascht werden. Mit einem Desaster beginnt der Film: Ein halbstündiges B-Movie über Zombies wird gedreht. Weil der Regisseur aber echten Horror will, entfesselt er den Fluch der Untoten, der über dem Drehort liegt. Der resultierende Streifen ist weder gruselig noch lustig – aber das erweist sich als der große Witz von »Coupez!«. Denn in seinem zweiten Drittel springt der Film ein paar Monate zurück und beginnt zu erzählen, wie das unsägliche Filmprojekt überhaupt zustande kam. Im letzten Drittel ist dann noch mal das eigentliche B-Movie zu sehen, jetzt aber inklusive allem Chaos hinter den Kulissen, was in der Kombination die ursprünglichen Patzer in Pointen umwandelt.

Als Metaspäßchen funktioniert das leidlich gut. Außer Konkurrenz gezeigt, muss sich »Coupez!« auch gar nicht erst messen mit zu erwartenden Highlights wie »Holy Spider« der schwedisch-iranischen Regiehoffnung Ali Abbasi oder »Pacifiction« vom katalanischen Provokateur Albert Serra. Nur die Aussicht, dass bei einem nennenswerten Erfolg von »Coupez!« an den französischen Kinokassen sicherlich das deutsche Remake in der Regie von Sönke Wortmann ansteht, trübt die Freude an der Eröffnung etwas. Aber üben wir uns auch erst mal in Demut und freuen uns auf alles, was in den nächsten Tagen an großem und kleinem Kino zu sehen ist.

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Jurypräsident Vincent Lindon (M.) auf dem roten Teppich, umgeben von seinen Co-Juroren (v.l.) Asghar Farhadi, Rebecca Hall, Noomi Rapace und Joachim Trier

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