Ablehnung ist eine Lebensart

2022-08-20 14:12:04 By : Ms. Betty Liu

Mit «Dämonen» führen Boris Nikitin und Sebastian Nübling das Publikum mitten in den unbarmherzigen Irrlauf des Coming of Age.

Der Theaterabend dauert über drei Stunden. Aber es handelt sich eigentlich gar nicht um einen richtigen Theaterabend, denn die Spielerinnen und Spieler stehen nicht (respektive erst ganz am Schluss) auf der Bühne. Zu erleben sind sie auf einer grossen Leinwand im Schauspielhaus. Auf dieser wird der wild-emotionale Roadtrip von sieben jungen Menschen durch das reale Basel live übertragen.

In dieser aussergewöhnlichen Konstellation erlaubt das Theater dem Publikum, den Zuschauersaal nach Lust und Laune zu verlassen und mit Getränken wieder zu betreten. An der Premiere machten nur ganz wenige von dieser ungewohnten Freiheit Gebrauch. Gebannt blieben die Blicke am Geschehen auf der Leinwand kleben.

Nachträglich lassen sich schon zwei oder drei eher zu Längen neigende Momente feststellen, die sich für eine Rauch- oder sonst eine Pause geeignet hätten. Man muss auch nicht befürchten, den roten Faden der Geschichte zu verlieren. Denn es wird keine Geschichte erzählt. Es gibt keine Dialoge, es finden auch keine wirklichen Interaktionen statt. Nikitin und Nübling lassen aus den herumirrenden Figuren vielmehr die jeweils ureigenen Dämonen des Coming of Age raustreten. Und das mit der irrwitzigen Kraft, die in den jungen Spielerinnen und Spielern steckt, die aus dem Ensemble des Theater Basel und des Jungen Theater Basel zusammengesetzt sind.

Diese haben zusammen mit dem Regieteam die Texte geschrieben. Es sind zum grossen Teil sehr intime und auch aufrüttelnde Bekenntnisse der jungen Menschen über ihren brutal schwierigen Weg der Selbstfindung zwischen Assimilation und Distanzierung, wie einer mal sagt. Er sei in einem mit Neubauten gefüllten Dorf aufgewachsen, in dem es neben Schnitzel und Pommes frites lediglich eine Tankstelle und einen Teppich Center gegeben habe – die pure Agglo-Hölle.

Ein anderer erzählt, dass er dreimal aufs Trottoir gekotzt habe in Erinnerung daran, gesehen zu haben, wie ein Velofahrer bei einer Kollision mit einem Auto zu Tode kam. Der Velofahrer habe sich im Nachhinein als bester Freund herausgestellt. Wiederum eine andere erzählt, dass sie ziellos durch die Strassen gegangen sei, um Kalorien zu verbrennen, um sich dann in der Bahnhofs-Apotheke ein Abführmittel zu besorgen, nach dessen Einnahme es zum Scheissen knapp noch in den «Burger King» gereicht habe.

Während dieses und viel weiteres mehr erzählt, zum Teil auch mit vollem Körpereinsatz regelrecht rausgerotzt wird, befinden sich die jungen Leute auf einem Dauer-Schnellgang durch die Stadt: Vom Schauspielhaus geht’s rauf zur Margarethenbrücke, runter in den Bahnhof, von dort zum Aeschenplatz, über die Wettsteinbrücke ins Kleinbasel, über das Kasernenareal und die Mittlere Brücke zurück ins Grossbasel, durch das Steinenbachgässlein rauf in die Pauluskirche und dann übers Nachtigallewäldeli und durch den Menschenwald in der Steinenvorstadt zurück ins Schauspielhaus.

Es ist ein wahrhaft langer Weg, auf dem es zu Beginn zu vielen peripheren und am Schluss auch zu mutig forcierten Begegnungen mit Passantinnen und Passanten kommt. Und es ist ein Weg, der mit dem Eindunkeln (und nach einer etwas langen Ruhepause in einer Kleinbasler Wohnung) in Wut, oder besser, in Wüten umschlägt.

Umgekleidet als groteske Halloween-Monster zieht der Tross wie eine Light-Version der brutalen Jugendbande aus Kubricks «Clockwork Orange» begleitet von einem harten Technobeat durch die Stadt, schlägt auf Plakatwände, rüttelt an Verkehrsschildern. Man brauche sich, man wolle sich nicht mehr für die Unzulänglichkeiten entschuldigen, sagen sie schliesslich.

Der Abend lebt von der, ja begeistert durch die unbändige Energie und Kraft der jungen Spielerinnen und Spieler. Es sind dies Elisa Dillier, Dominic Hartmann, Elif Karci, Ann Meyer, Julian Anatol Schneider, Sven Schelker und Lukas Stäuble. Sie schmeissen sich in die Sache rein, als gäbe es kein morgen mehr. Der Abend hat seine Schwächen, wenn er zuweilen etwas sehr in eine Künstlichkeit abschweift. Er hat auch gewisse Längen.

Aber daran dachte im Publikum am Schluss niemand mehr. Das Ensemble und mit ihm das unermüdliche Kamerateam mit Robin Nidecker und Jelïn Nichele wurden mit stehenden Ovationen bedacht.