Österreichs Bundespräsident Van der Bellen vor Wiederwahl

2022-10-08 21:17:28 By : Ms. ZFG auto parts Service

Der Jakominiplatz in Graz wirkt etwas heruntergekommen, vor allem aber unübersichtlich. Hier am Rande der Altstadt kreuzen sich ziemlich alle Straßenbahnlinien der Steiermark-Metropole.

Gerade und in Bögen verlaufen verschiedenste Gleise, treffen in spitzen oder stumpfen Winkeln aufeinander. Die Passanten gehen schnurstracks über das Schienengewirr ohne Begrenzungen oder Ampeln, das erscheint todesmutig.

An diesem Vormittag hat ein Unterstützungsteam von Alexander Van der Bellen einen Stand auf dem Jakominiplatz aufgebaut. Um 10.10 Uhr kommt der österreichische Bundespräsident unvermittelt höchstpersönlich mit Entourage. Kaum einer hat es gewusst. Schnell bildet sich eine Menschentraube um ihn. Händeschütteln, wechselseitiges „Grüß Gott“ und „alles Gute“.

In Österreich steht an diesem Sonntag die Wahl des Staatsoberhaupts, des Bundespräsidenten an. Amtsinhaber Van der Bellen, 78 Jahre alt, Grüner mit ruhender Parteimitgliedschaft, kandidiert nach 2016 zum zweiten und letzten Mal. Alles andere als eine Wiederwahl mit absoluter Mehrheit wäre eine große Überraschung.

Der schlanke grauhaarige Mann mit dem recht vornehmen und etwas behäbigen Auftreten scheint in den vergangenen Jahren zur einzigen verlässlichen Konstante der österreichischen Politik geworden zu sein.

Eine Affäre jagt die andere in der Alpenrepublik – ein schier nicht entflechtbares Gewirr, wie die Gleise auf dem Jakominiplatz. Es geht um Korruption, die Ibiza-Affäre ist noch lebhaft in Erinnerung, bald darauf schnellte ein junger konservativer Politiker namens Sebastian Kurz zum Shooting-Star empor und fiel dann ins Bodenlose. Van der Bellen aber –– gemeinhin als „VDB“ bezeichnet, Freunde nennen ihn Sascha – ist immer da als Repräsentant eines, sagen wir, redlichen und ehrlichen Österreichs.

Der Wahlkampf in der Alpenrepublik hält sich sehr in Grenzen, es gibt im Prinzip eineinviertel Kandidaten, auch wenn sieben auf dem Wahlzettel stehen. Neben Van der Bellen geht die rechtspopulistische FPÖ mit dem in seiner Partei als gemäßigt geltenden Walter Rosenkranz ins Rennen.

Dieser gibt den biederen Traditionsösterreicher, der im Janker über die Volksfeste zieht und sagt: „Holen wir uns unser Österreich zurück!“ Sollte Van der Bellen keine absolute Mehrheit erreichen, so treten bei einem zweiten Wahlgang die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen gegeneinander an.

Weiter kandidieren fünf Männer von der rechten und der linken Seite, Spaßkandidaten. Am schillerndsten ist der Mediziner und Musiker Dominik Wlazny alias „Marco Pogo“, der mit seiner „Bier-Partei“ ganz generell Österreich und die Welt besser machen möchte und eine „Bierokratie“ anstrebt.

Die beiden großen Volksparteien, die Österreich über Jahrzehnte hinweg geprägt haben, verzichten hingegen auf Kandidaten – die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) und die sozialdemokratische SPÖ.

Denn gegen „VDB“ würde man nur eine Niederlage einfahren. Die ÖVP ist schwer erschüttert von den Korruptionsvorwürfen gegen ihren früheren Spitzenmann Sebastian Kurz und in der Wählergunst abgestürzt.

Auch sind sich ÖVP und SPÖ einig, dass Van der Bellen keinen schlechten Job gemacht hat. SPÖ-Parteisprecherin Elisabeth Garfias-Mitterhuber sagt der „Schwäbischen Zeitung“: „Er hat sein Amt unabhängig, verantwortungsvoll und besonnen ausgeführt.“ Der SPÖ-Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner wären zwar gewissen Chancen eingeräumt worden. Diese macht sich aber eher Hoffnung, nach der nächsten Parlamentswahl in spätestens zwei Jahren Kanzlerin zu werden.

Im Vergleich zum deutschen Bundespräsidenten hat der österreichische ein bisschen mehr zu sagen, aber nicht sehr viel. Dass er kein bloßes Abnick-Staatsoberhaupt sein wird, stellte Van der Bellen schon zu Beginn 2016 klar. Er werde, so sagte er, nach Parlamentswahlen nie einen FPÖ-Politiker beauftragen, sich eine Regierungsmehrheit zu suchen. Das war eine Boykottansage gegen die Gepflogenheit, der stärksten Partei den Regierungsauftrag zu erteilen.

„So ist Österreich einfach nicht.“ Dieser Satz bleibt der stärkste aus Alexander Van der Bellens erster Amtszeit. Er sagte ihn in einer Ansprache, nachdem das Ibiza-Video im Mai 2019 veröffentlicht worden war.

Der FPÖ-Vizekanzler und Parteivorsitzende Heinz-Christian Strache war auf der Ferieninsel in eine Falle getappt: Die angebliche Nichte eines russischen Oligarchen bot ihm bei einem feuchtfröhlichen Treffen an, für die FPÖ über Strohmänner das größte Boulevardblatt „Kronen-Zeitung“ zu kaufen sowie in die Bauindustrie einzusteigen.

Strache war begeistert, das zeigte der Film überdeutlich. Van der Bellen sprach von „beschämenden Bildern“ und einer „dreisten Respektlosigkeit“. Die FPÖ wurde aus der Koalition mit der ÖVP gefeuert, der Präsident hatte dies ganz entschieden forciert. Es kam zu Neuwahlen.

Alexander Van der Bellen ist das Kind eines deutschstämmigen Paares aus Estland, das 1941 aufgrund der Verfolgung durch die Sowjetunion emigrierte. Drei Jahre darauf wurde er in Wien geboren, Kindheit und Jugend verbrachte er im Tiroler Kaunertal.

Später schlug er eine akademische Laufbahn ein und erlangte eine Professur für Volkswirtschaft in Wien. Van der Bellen arbeitete bei den Grünen mit, wurde deren Vorsitzender und stand lange Jahre an der Spitze der Fraktion im Parlament, dem Nationalrat.

Er ist ein spröder Typ. Was man als volkstümlich bezeichnet, kann er nicht. Das sieht man beim Besuch in Graz. Geduldig schüttelt er die Hände der Menschen, die zufällig am Jakominiplatz sind und auf ihn zukommen. „Ich wähle Sie“, sagt ein Mann, „sie sind wichtig für Österreich“ eine Frau. 100-, vielleicht 150-mal lässt er sich mit den Leuten von deren Handys fotografieren. Spaß macht ihm vor allem ein kleiner weißer Hund, mit dem er eine Weile spielt. Van der Bellen ist dafür bekannt, dass er mit seiner Hündin Juli in Wien regelmäßig spazieren geht.

„Größere Wahlkampfveranstaltungen machen wir nicht“, sagt sein Sprecher Stephan Götz-Bruha der „Schwäbischen Zeitung“. Die Aktionen wie in Graz erfolgten recht spontan. Denn wenn Van der Bellen angekündigt wird, so der Sprecher, „kommen 100 Nazis mit Trillerpfeifen, die das sprengen wollen“. Das gibt zu denken über die Verfasstheit dieses Landes.

Diese Amtszeit war die turbulenteste seit vielen Jahren für einen österreichischen Bundespräsidenten. Van der Bellens Vorgänger hatten sich eher in einer gepflegten Langeweile geübt. Er allerdings hatte die Minister und Mitglieder von insgesamt fünf Regierungen anzugeloben – so nennt man in Österreich die Vereidigung.

Das waren, je nach Zählweise, 50 oder auch 125 Personen, die den langen roten Teppich in der Wiener Hofburg zum Präsidenten beschritten und wieder verlassen haben. In seiner Amtszeit gab es Regierungen aus SPÖ und ÖVP, ÖVP und FPÖ, ÖVP und Grünen unter Sebastian Kurz, eine Expertenregierung mit der Juristin Brigitte Bierlein als Kanzlerin sowie zwei Mal ÖVP und Grüne ohne Kurz.

Sebastian Kurz – der Name des jungen, forsch dreisten ÖVP-Stars, der sich in absolutistischer Manier seine Partei zum Untertanen machte, dürfte Van der Bellen noch lange im Ohr klingen. Kurz hatte eine Zeitung mit Anzeigen für gute und falsche Berichterstattung bezahlt, hatte seine Partei und die Regierung ganz auf sich zugeschnitten.

Durchaus mit dem Anspruch, so meinen manche Beobachter, eine Art von autoritärem Staat zu formen. Selbst der Parteiname wurde für den heute erst 36-jährigen Ex-Kanzler geändert: Nicht die ÖVP trat mehr an, sondern „Sebastian Kurz – die neue Volkspartei ÖVP“.

Aus dem Kurz-Desaster hat sich Van der Bellen rausgehalten. Kritische Nachfragen, etwa in einem Interview mit dem Österreichischen Rundfunk, bürstete er ab – die Staatsanwaltschaft ermittle ja, die Institutionen funktionierten. Das Land befinde sich nicht in einer Staatskrise. Kommt Russland zur Sprache, sagt er: „Wir waren zu lange auf einem Auge blind.“ Er verliert da nicht die Fassung, ist aber sichtlich schlecht gelaunt.

Van der Bellens Wahlkampf ist vor allem staatstragend und gegen radikale Kräfte gerichtet. „Vernunft statt Extreme“, lautet der Slogan auf einem Plakat. Oder: „Wer unsere Heimat liebt, spaltet sie nicht.“

Und ganz einfach: „Aus ganzem Herzen Österreich.“ Insgesamt erscheint das politische und gesellschaftliche Klima als ziemlich vergiftet. Hervorgerufen wurde das durch die Skandale von Strache und Kurz, aber auch durch Corona und die Folgen.

Das Anti-Corona-Lager war und ist mitunter größer und radikaler als in Deutschland. In Wien hatten im Dezember vergangenen Jahres 40 000 Menschen gegen den Lockdown und eine Impfpflicht demonstriert.

Die österreichische Ärztin und Impf-Befürworterin Lisa-Maria Kellermayr hatte im Sommer Suizid begangen, nachdem sie Opfer einer Hasswelle im Internet geworden war.

Die FPÖ, vor allem ihr radikaler Parteichef Herbert Kickl, greifen demokratische Institutionen an, indem sie etwa immer wieder gegen „das System“ wettern. Helmut Brandstätter, ein früherer österreichischer Journalist und heutiger Abgeordneter der linksliberalen Neos, nennt Österreich eine verstörte Republik, die der Heilung bedürfe.

In Graz kommt eine ganz kleine, ganz alte Frau auf Alexander Van der Bellen zu. Sie habe Probleme mit der Rente, sie verstehe das alles nicht. Er sagt: „Schreiben Sie mir das und schicken es mir.“ „Ja, aber wohin denn?“ „Einfach an den Bundespräsidenten, Hofburg, Wien. Sie bekommen garantiert eine Antwort.“