Filmfestival: Von Menschen und Fröschen (nd-aktuell.de)

2022-05-28 03:04:07 By : Mr. Mr. Yu

Auf dem Film-Fes­ti­val von Can­nes sieht man sich manch­mal mit bana­len Fra­gen kon­fron­tiert, ob man zur Pre­mie­re gehen soll, die etwa bis halb eins nachts dau­ert oder ob man das Ticket die­ses Mal doch lie­ber can­celt, um zumin­dest etwas Schlaf nach­zu­ho­len. Pre­mie­ren und Pres­se­vor­füh­run­gen um 22.30 Uhr sind auf die­sem Fes­ti­val gän­gig. Nicht ohne Grund gibt es im Pres­se­be­reich bis zur Mit­ter­nacht Kaf­fee! Lun­go oder Espres­so. Milch kommt hier nicht infra­ge – zu schwach für solch einen Filmmarathon.

Kommt man etwa gegen ein Uhr mor­gens aus dem Kino, sieht die Gegend immer noch wie eine Par­ty­mei­le aus. Men­schen­men­gen über­all, Cafés, Bars und die Luxus­re­stau­rants an den Strän­den über­voll. Die Pal­men vor dem Palais des Fes­ti­vals leuch­ten grün. Die Möwen bewe­gen sich wie wei­ße Punk­te im dun­kel­blau­en Nacht­him­mel im Kreis. Man hat das Gefühl, man wür­de etwas ver­pas­sen, wenn man jetzt ins Hotel zurück­gin­ge; auf solch einem inten­si­ven Fes­ti­val wer­den einem die Gren­zen der mensch­li­chen Kräf­te umso mehr bewusst. Kommt man jede Nacht erst gegen zwei Uhr im Hotel­zim­mer an (mit dem Wis­sen, den Wett­be­werbs­film, den man ver­passt hat, kann man sich viel­leicht am nächs­ten Tag noch um 8.30 Uhr anschau­en), wünscht man sich für die Dau­er des Fes­ti­vals die Power eines Super­mans oder Super­wo­man, um nicht schla­fen zu müssen.

Die Prall­heit des Fes­ti­vals über­wäl­tig­te mich schon am ers­ten Tag. Vom Flug­ha­fen direkt an den Fes­ti­val­ort gefah­ren, Kof­fer irgend­wo abge­ge­ben, den Badge abge­holt, kaum Zeit, sich eine Fla­sche Was­ser zu besor­gen (vom Essen ganz zu schwei­gen), habe ich es gera­de so geschafft, kurz vor dem Beginn des ers­ten Films im Kino­saal zu lan­den. Für den ers­ten Tag hat­te ich mir vor­ge­nom­men, drei Fil­me anzu­se­hen, mit jeweils einer hal­ben Stun­de Pau­se dazwi­schen (für die Vor­stel­lun­gen jedes Tages muss­te man vier Tage vor­her die Tickets buchen).

Man sag­te, Can­nes sei so klein, alles sei in der Nähe. Doch wegen der Bar­rie­ren und Zäu­ne und ver­schie­de­nen Ein­gän­ge kann man sich nicht frei bewe­gen. Je nach der Art des Bad­ges hat man einen ande­ren Zugang zu den Fes­ti­val­räu­men. Betritt man ver­se­hent­lich einen fal­schen Ein­gang gewählt, kann es pas­sie­ren, dass man 20 Minu­ten braucht, um wie­der aus dem Laby­rinth her­aus­zu­kom­men. Taschen und Rück­sä­cke wer­den an jeder Tür kon­trol­liert. Am Ende des ers­ten Tages hat­te ich schon ein ande­res Zeit­ge­fühl, erfah­ren müs­sen, dass eine hal­be Stun­de in Can­nes kaum von Bedeu­tung ist. Erst nach fast sie­ben Stun­den kon­ti­nu­ier­li­chem Fil­me­schau­en habe ich es zu einem Stand mit Trink­was­ser geschafft. Für den zwei­ten Tag hat­te ich Tickets für fünf Fil­me; zwei davon habe ich sofort gecancelt.

Man­cher Saal stinkt nach Mund­ge­ruch, vor allem bei den Abend­vor­stel­lun­gen. War es frü­her (und frü­her heißt vor Covid-19) auch so, dass Kino­sä­le nach irgend­et­was rochen? Oder ist man nun sen­si­bler gewor­den, wenn man mal kei­ne Mas­ke auf­hat? Apro­pos Mas­ke, nur noch weni­ge Men­schen tra­gen sie in den Kino­sä­len und ande­ren geschlos­se­nen Räu­men wie auch in den öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln in Can­nes. Alle Plät­ze im Kino sind besetzt, man sitzt dicht bei­ein­an­der. Und so fällt einem das Atmen der ande­ren auf. Man fragt sich wäh­rend der Vor­füh­rung, ob die Frau neben einem leich­ten Schnup­fen hat oder nur komisch atmet. Es stellt sich her­aus: Sie weint. Man­che holen auch Schlaf im Kino­saal nach! Die­se benei­de ich.

Bei den Pre­mie­ren, die im Haupt­saal, im Grand Thé­ât­re Lumiè­re, gezeigt wer­den, ist auch das Film-Team dabei. Es wird über einen Roten Tep­pich ins Kino beglei­tet. Auch alle Zuschauer*innen schrei­ten über jenen, vor den lau­fen­den Kame­ras der inter­na­taio­na­len Pres­se. Ein klei­ner Fame-Moment für alle! Und für die­se paar Sekun­den gibt es sogar Dress-Codes: Gala mit ele­gan­ten Schu­hen, ist ange­sagt. Kommt man spät genug, also kurz vor dem Beginn der Pre­mie­re, sind »die Stars« schon auf dem Roten Tep­pich, und man ist auf Tuch­nä­he zu ihnen. Die Stars: Das ist das Haupt­the­ma des Can­nes-Fes­ti­vals. Auch wenn man es nicht vor­hat, begeg­net man irgend­wel­chen »Stars« hier und da. Da will man bei­spiels­wei­se ein­fach nur die Stra­ße über­que­ren, doch dann wird die­se plötz­lich von bewaff­ne­ten Poli­zis­ten gesperrt. Anschei­nend sind eini­ge Pro­mi­nen­ten gera­de unter­wegs. Erst spä­ter fällt dir ein Gewim­mel vor einem Hotel gegen­über auf. Der fran­zö­si­sche Schau­spie­ler Lou­is Gar­rel (man­che ken­nen ihn aus »Die Träu­mer« von Ber­to­luc­ci) steigt gera­de in einen BMW ein und wird dabei gefilmt. Schön, darf man jetzt end­lich die Stra­ße über­que­ren? Nein, die Ein­steig­sze­ne muss wie­der­holt wer­den. Lou­is Gar­rel steigt die­ses Mal mit etwas mehr Gelas­sen­heit ein.

Um sich in der Stadt und zwi­schen den ver­schie­de­nen Kinos zu bewe­gen (man­cher Ver­an­stal­tungs­ort liegt etwa eine hal­be Stun­de weit ent­fernt vom Zen­trum), erhal­ten die Akkre­di­tier­ten einen QR-Code, damit kön­nen sie wäh­rend des Fes­ti­vals die soge­nann­ten Palm-Bus­se umsonst­nut­zen. Die Bus­se sind oft über­füllt. Wenn in einem Bus Men­schen bereits wie Sar­di­nen in der Dose anein­an­der­kle­ben, will man nicht ein­stei­gen. Man ist ete­pe­te­te und war­tet lie­ber auf den nächs­ten Bus. Doch das kann lan­ge dau­ern, und bis dahin ist wie­der Gedrän­ge an der Hal­te­stel­le, Men­schen, die gera­de aus einer Vor­füh­rung ström­ten. Das ist der Moment, in dem einem Social Distancing egal ist, so schubst man nun auch die ande­ren vor sich her und quetschst sich in den Bus. Das Ein­zi­ge, was zählt, ist, eine Pre­mie­re auf der ande­ren Sei­te der Stadt nicht zu verpassen.

Nicht im gan­zen Can­nes herrscht solch ein Gedrän­ge. Man­ches Hotel befin­det sich weit weg vom Fes­ti­val-Rausch und -Gewühl. Und wenn man gegen zwei Uhr mor­gens dort ankommt, gibt es kei­nen Men­schen auf der Stra­ße, es fah­ren viel­leicht drei Autos an einem vor­bei. In der Stil­le der Nacht klin­gen die im Kanal neben dem Hotel leben­den Frö­sche und die eif­rig zir­pen­den Gril­len wie komi­sche Krea­tu­ren in »Star Wars«. Man fühlt sich auf einem ande­ren Pla­ne­ten angekommen.

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