Olaf Scholz droht EU-Gipfel des Missvergnügens - DER SPIEGEL

2021-12-27 11:03:06 By : Ms. Iris Liu

Kanzler Scholz vor dem EU-Gipfel in Brüssel

Der rote Teppich zumindest war sauber, dafür hatten die Organisatoren des EU-Gipfels in Brüssel gesorgt. Schon am Dienstag durften die für Europa zuständigen Minister der Mitgliedstaaten nicht mehr über das repräsentative Textil zu ihrem Treffen schreiten. Sonst sei er dreckig, wenn die Staats- und Regierungschefs kommen, musste sich etwa der Luxemburger Jean Asselborn belehren lassen. »Als ob Europaminister in der Tierfabrik arbeiten«, ärgerte sich der dienstälteste Außenminister der EU, der sich prompt durchs Flaggenspalier schlängelte und trotz Verbots über den roten Teppich lief.

Andere trauten sich das nicht, und so fand Bundeskanzler Olaf Scholz am Donnerstagmorgen bei seinem ersten Gipfel in Brüssel einen reinen Teppich vor. Als Sinnbild für das anstehende Treffen taugt der strahlende Läufer aber nicht. Denn die Tagesordnung verspricht wenig glanzvolle Ergebnisse:

die drohende russische Invasion in der Ukraine,

der dadurch erneut aufflammende Streit über die Gaspipeline Nord Stream 2,

die Zersplitterung der EU im Kampf gegen Covid-19.

Zudem dürfte der Gipfel lang werden: Da er von zwei Tagen auf einen komprimiert wurde, ist mit einem Ende erst in der Nacht zum Freitag zu rechnen.

Scholz übte sich vor Beginn wie so oft in rhetorischer Zurückhaltung, wenn nicht gar Untertreibung. Der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine sei eine »schwierige Situation«, sagte der Kanzler. »Deshalb werden wir hier heute noch einmal betonen, dass die Unverletzbarkeit der Grenzen eine der ganz wichtigen Grundlagen des Friedens in Europa ist, und dass wir gemeinsam alles tun werden, dass es bei der Unverletzbarkeit wirklich bleibt.«

Litauens Präsident Gitanas Nausėda klang da anders, sprach von der »gefährlichsten Situation der letzten 30 Jahre«. Das gelte nicht nur für die Ukraine, sondern für die gesamte Ostflanke der Nato, darunter das Baltikum. Russland habe Belarus inzwischen »in sein Militärsystem« integriert – und könne das Land als Basis für Angriffe nutzen, was die Reaktionszeit verkürze. »Wir müssen alles nutzen, was wir in der Hand haben, um das Schlimmste zu verhindern«, so Nausėda. Man müsse auch darüber reden, ganze russische Wirtschaftssektoren – und nicht wie bisher nur einzelne Personen und Organisationen – mit Sanktionen zu belegen.

Litauischer Präsident Nausėda: »Gefährlichste Situation der letzten 30 Jahre«

Deshalb, so der Litauer, werde man auch über die Gaspipeline Nord Stream 2 reden müssen. Diese Sicht der Dinge ist nicht nur im Osten der EU verbreitet. Sollte Russlands Präsident Wladimir Putin sein Militär in die Ukraine einmarschieren lassen, werde er »einen hohen Preis« zahlen, sagte ein Diplomat eines westlichen EU-Lands. Jedem sei ohne Zweifel klar, was diese Drohung bedeute – »und das schließt auch Nord Stream 2 ein«.

In Berlin hört man das nicht gern. Es gebe ein »rechtlich sehr detailliert geregeltes Verfahren« bezüglich der Betriebserlaubnis für die Pipeline, hieß es aus Berliner Regierungskreisen. Und da die Bundesnetzagentur dieses Verfahren ausgesetzt habe, gebe es in dieser Frage derzeit »keine politische Entscheidungsmöglichkeit« und auch keinen solchen Bedarf. Im Gipfel-Kommuniqué kommt die Pipeline derzeit nicht vor. In einem Entwurf, der dem SPIEGEL vorliegt, werden Russland »massive Konsequenzen und heftige Kosten« angedroht, von Nord Stream 2 aber ist explizit keine Rede.

Die Positionen liegen auch in der Diskussion über die derzeit hohen Energiepreise weit auseinander. Spanien und einige andere Länder verlangen Änderungen an den Regeln des EU-Energiemarkts, Polen sieht in den europäischen Klimaschutzplänen den Grund für die Preisexplosion, wieder andere verdächtigen Putin, mit der Verknappung des russischen Gasangebots die Märkte zu manipulieren.

Die Bundesregierung will dagegen keine Hinweise auf eine Störung erkennen, geschweige denn auf eine Manipulation der Märkte. Dass die Energiepreise kurzzeitig stark schwanken können, heißt es aus Berlin, sei seit Jahrzehnten bekannt. Deshalb sei nicht damit zu rechnen, dass bei der Diskussion beim Gipfel viel herauskomme.

Streit droht auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie. Diesmal ist es vor allem Italien, das mit bei der Einführung einer Testpflicht bei Einreise auch für Geimpfte Irritationen ausgelöst hat. Reisebeschränkungen seien keine Lösung, sagte Luxemburgs Premier Xavier Bettel. Sein belgischer Amtskollege Alexander De Croo äußerte dagegen Verständnis dafür, »dass einige Länder versuchen, Impfungen mit Tests zu verbinden«. Scholz beantwortete vor dem Gipfelstart die Frage nach seiner Meinung zu dem Thema erst gar nicht.

Da Grenzschutz und Gesundheit in der Verantwortung der einzelnen Länder liegen, kann der Gipfel ohnehin nur mahnen. Gefragt seien »koordinierte Anstrengungen«, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, heißt es in im Entwurf der Abschlusserklärung. Zudem gelte es sicherzustellen, dass Einschränkungen »auf objektiven Kriterien beruhen«, das Funktionieren des Binnenmarkts nicht untergraben und das freie Reisen innerhalb der EU nicht »unverhältnismäßig behindern«.

Die beste Waffe gegen die Pandemie sei ohnehin die Impfung, wie mehrere Staats- und Regierungschefs betonten. Doch die Impfraten der Staaten sind teils stark unterschiedlich, es gibt ein drastisches Ost-West-Gefälle. In Portugal etwa sind mehr als 80 Prozent der Menschen vollständig geimpft, in Bulgarien weniger als 30 Prozent. Die neun Länder mit den niedrigsten Quoten sind ausschließlich im Osten der EU zu finden.

Beim Dauerthema Migration soll es erst gar nicht den Versuch geben, die strittigsten Fragen – vor allem die Verteilung von Flüchtlingen und ein neues EU-Asylrecht – aufzugreifen. Stattdessen soll es ausschließlich um die außenpolitischen Aspekte gehen, etwa wie man Herkunfts- und Transitländer dazu bringt, Migranten und Geflüchtete von der Reise nach Europa abzuhalten und diejenigen wieder aufzunehmen, die es bis in die EU geschafft, aber kein Asyl bekommen haben.

Im Gipfel-Kommuniqué ist erkennbar, dass der EU in dieser Hinsicht die Geduld ausgeht. Der Außenbeauftragte Josep Borrell soll laut dem Entwurf beauftragt werden, alle verfügbaren Instrumente der EU »als Druckmittel« einzusetzen, um die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber zu sichern – darunter Entwicklungshilfe sowie die Handels- und Visumspolitik. Das Signal an die Herkunftsländer ist klar: Verweigern sie weiterhin die Zusammenarbeit, könnte es künftig teuer werden.

Scholz kann sich angesichts der Vielzahl von Streitthemen einerseits damit trösten, dass es seine Vorgängerin Angela Merkel auch nicht leicht hatte: Bei ihrem ersten EU-Gipfel vor genau 16 Jahren musste die Kanzlerin einen 30-stündigen Verhandlungsmarathon durchstehen. Andererseits stand am Ende die Einigung auf den nächsten Mehrjahres-Haushalt der EU, Merkel wurde für ihre Rolle als Streitschlichterin als »Retterin der EU« und »Heldin von Brüssel« gefeiert.

Ein solches Debüt, so viel ist klar, wird es für Scholz nicht geben.

SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt

SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.

Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.

Kanzler Scholz vor dem EU-Gipfel in Brüssel

Litauischer Präsident Nausėda: »Gefährlichste Situation der letzten 30 Jahre«

Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit