Atommüll: Strahlengrab im Hochrhein-Idyll: So begründet die Nagra das Atomendlager bei Hohentengen | SÜDKURIER

2022-09-17 12:32:44 By : Ms. carrie zuo

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Hohentengen ist ein Ort, vor dem sich die Wiesen wie ein Teppich entrollen. Weinreben wachsen in eindrucksvoller Höhe heran, während sich weiter unten die Einfamilienhäuser mal mehr, mal weniger eng aneinanderschmiegen.

Kleinbürgerliches Idyll, ein Erholungsort. Mit Touristen und Kühen und Pendlern und Bauern, im Süden nur vom Rhein flankiert. Von der anderen Seite her grüßt die Schweiz. Und in zwei Jahrzehnten auch deren Atommüll.

Denn das Schweizer Nachbargebiet soll Endlager werden. So hat es die Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, kurz Nagra, entschieden. Ein Grab für die Erblast von vier Atomkraftwerken, plus radioaktiver Abfall aus Medizin, Industrie und Forschung. Zusammengenommen sind es 81.300 Kubikmeter hoch-, mittel- und schwachradioaktiver Strahlenmüll, der tief unten verräumt werden soll.

Sagt die Regierung zu, will die Nagra ab 2045 mit dem Bau des Kombilagers beginnen, das rund 20 Milliarden Franken kosten könnte. Die Einlagerung würde dann ab etwa 2050 erfolgen.

Zeit ist bis dahin noch genug, und doch ist sie knapp. Der Plan der Schweiz ist getaktet. Denn momentan ist der Müll nur zwischengelagert. 14 Jahre hat die Nagra nach dem passenden Ort gesucht, um den unliebsamen Abfall zu entsorgen.

Jetzt ist sie sicher: Er soll nach Nördlich Lägern, ein Gebiet unweit von Stadel im Kanton Zürich, gut zwei Kilometer vom deutschen Hohentengen entfernt. Er gilt laut Nagra als der tiefste der drei Standorte, die die Behörde in den vergangenen Jahren untersucht hat.

Nördlich Lägern, das Urteil überrascht. Und auch wieder nicht. Denn die Behörde hatte das Gebiet 2015 schon von der Liste nehmen wollen. „Wegen bautechnischer Nachteile“, sagt Matthias Braun bei der Pressekonferenz in Bern, die die Schweizer Entscheidung erklären soll. Damals habe man vermutet, dass das Tiefenlager an dieser Stelle zu unsicher sei, schildert der Vorsitzende der Geschäftsleitung der Nagra.

Dass das Gebiet aus diesem Grund ausgeschlossen wird, dem widersprachen 2015 allerdings die Kantone. Nördlich Lägern fiel zurück in den Topf. Was irritierend klingt, erläutert Braun so: Im Nachhinein betrachtet sei man bei der Nagra zu vorsichtig gewesen, was die Beurteilung des Standorts anbelangt. „Die Festigkeit des Gesteins ist doppelt so gut wie damals gewertet.“

Argumente, mit denen die Kommunen entlang des Hochrheins schon länger hadern. Viele halten das Vorgehen der Nagra für kein rein wissenschaftliches, sondern für eine Farce. Die Entscheidung sei politisch geleitet, Nördlich Lägern stünde in der Endlagerungsfrage bereits seit Jahren fest. Das Gebiet sei weniger besiedelt als andere Standorte, der Widerstand entsprechend gering.

Folgt man wiederum der Begründung der Schweizer Behörde, hat ausgerechnet das, was zunächst gegen den Standort gesprochen hatte, die Eignung von Nördlich Lägern untermauert. Nämlich das, was sich darunter befindet: ein 175 Millionen Jahre alter Tonstein aus dem mittleren Jura.

Opalinuston nennen ihn die Geologen. Grau, langweilig, unscheinbar. Er zieht sich unter der Schwäbischen Alb hindurch bis nach Ulm. Eine dicke Tonschicht, erklärt Braun. Sie sei dicht, praktisch undurchlässig für Wasser und: „Sollte sie doch brechen, heilt sie von selbst.“ Der ideale Friedhof für strahlenden Müll also, den das Gestein binden soll wie ein Magnet.

Dieser Opalinuston kommt dem Nagra-Chef zufolge an allen drei untersuchten Standorten so vor, dass sich die drei – sowohl Jura Ost, Zürich Nordost als auch Nördlich Lägern – für die Entsorgung grundsätzlich eignen würden. Aber: Die Qualität des Gesteins, die Stabilität vor Ort sei bei Stadel im Haberstal am besten. Hier soll auch der Eingang zum Tiefenlager entstehen.

Für Hohentengen und die angrenzenden Hochrheingebiete ist das der Gau. Die Region gilt mit den Kernkraftwerken Leibstadt in Eigen und Beznau bei Döttingen sowieso als Atomregion. Kommt nun das Tiefenlager dazu, so die Befürchtungen, bleiben Touristen weg, bröckelt der Wert als Erholungsort, sinken die Preise für Grundstücke und am Ende auch ein Teil Lebensqualität.

Diese Angst will die Schweiz finanziell zumindest abfangen, durch sogenannte Abgeltungen. Noch sei unklar, wie hoch sie ausfallen, erklärt Monika Stauffer vom Schweizer Bundesamt für Energie vor den Journalisten in Bern. Verhandlungen müssten noch geführt werden. Fest stehe dagegen, dass das Geld in die regionale Entwicklung fließen soll.

Bedacht würden Regionen, nicht einzelne Gemeinden, sagt Stauffer. Privatpersonen können demnach nicht von den Abgeltungen profitieren. Betroffene, deren Grundstück an Wert verliere, müssten über die gesetzliche Grundlage einen Schaden beklagen.

Trösten dürfte das die Bürger auf deutscher Seite nicht. Sie sehen ihr Hochrhein-Idyll bedroht. Immer wieder kritisierten sie, dass die Schweizer Suche nach einem Atomendlager zu undurchsichtig sei, dass man sie nicht in den Prozess einbinde. In der Schweiz empfindet man das anders.

Die Regionalkonferenz habe sich in mehr als 1000 Sitzungen getroffen, erzählt Monika Stauffer. Hier habe jede Seite die Möglichkeit gehabt, Stimmen, Einwände, Anregungen einzubringen. Dass Hohentengen gehört wurde, zeige etwa der geplante Eingang zum Tiefenlager in Haberstal, der nicht in Sichtweite der deutschen Kommune liegt.

Der Blick aufs Strahlengrab ist aber nicht die einzige Angst der Menschen. Es gibt da noch eine andere, die Angst vor den Folgen der externen Verpackungsanlage. Die soll nach den Plänen der Nagra nun nicht am Tiefenlager entstehen, sondern beim Zwischenlager, dem Zwilag, in Würenlingen. Die Behörde behauptet: „Das schafft Synergieeffekte.“ Und: „Man spart Ressourcen.“ Die deutschen Kommunen sagen: „Die Verpackungsanlage birgt ein Risiko.“ Und: „Das gefährdet unser Trinkwasser.“

Bis beides, Tiefenlager und Verpackungsanlage, errichtet werden, ist es für die Schweiz noch ein langer Weg. Zumal noch einige Punkte offen sind, zum Beispiel die Frage danach, wo die Verpackung zur Endlagerung stattfinden soll. In Deutschland beobachtet man das weitere Vorgehen im Nachbarland ganz genau.

Nicht nur, was unmittelbare Auswirkungen für den Hochrhein betrifft: Anders als Deutschland ist die Schweiz schon da, wo alle hinmüssen. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich darauf geeinigt, dass jedes Land selbst für seinen hochradioaktiven Müll verantwortlich ist. Daher ist es auch nicht möglich, dass Deutschland und die Schweiz ein gemeinsames Lager betreiben. „Wir sind für unseren Müll verantwortlich“, hieß es dazu aus dem Umweltministerium.

Deutschland wird den Angaben zufolge voraussichtlich erst 2031 den Lagerstandort festlegen. Das würde angesichts des Energienotstands auch Zeit – wenn die Atomkraftwerke länger laufen müssen, entsteht zusätzlicher Strahlenabfall. Irgendwann wird auch der den Weg in die Erde finden müssen.

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